Ein guter Tag.

Am 10. November 1483 erblickt Martin Luther das Licht der Welt, rund 34 Jahre später schlägt er 95 Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg. Es folgt eine Revolution der Kirche.

Am 10. November 1759 erblickt Friedrich Schiller das Licht der Welt, im Laufe seines (und vieler weiterer) Leben schenkt er der literarischen Welt Dramen und Poesie. Es folgt ein dringend notwendiger Sturm und Drang, genügend Lesestoff für Generationen.

Am 10. November 1885 erblickt der Reitwagen von Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach das Licht der Welt. Es folgt ein neues, mobiles Zeitalter, das zwischen Cannstatt und Untertürkheim erstmals in Bewegung kommt.

Am 10. November 1969 erblickt Jens Lehmann das Licht der Welt, etwa 37 Jahre später hält er im Viertelfinale zwei Elfmeter gegen Argentinien. Es folgen schwarz-rot-goldene Euphorie und die  wahr gewordene Hoffnung, dass das mit der Weltmeisterschaft doch irgendwann was wird.

 

Am 10. November 1956 erblickt mein Vater das Licht der Welt, etwa 23 Jahre später trifft er meine Mutter, verliebt sich, verlobt sich, heiratet sie. Es folgen ein Kind, eine Flucht nach Deutschland, ein weiteres Kind, ein Sprachkurs, ein Job, viel Arbeit, viel Geduld, eine Wohnung, viel Ausdauer, Stress, ein Haus, Sorge, Freude, Vorfreude.

Welche dieser fünf Novembertage für die Welt folgenschwerer ist, ist nicht ganz einfach auszumachen. Klar ist jedoch, dass der 10. November wohl schon immer unter einem guten Stern stand, besonders für mich. Ohne Luther keine KSJ, ohne Schiller kein Interesse am Germanistik-Studium, ohne Reitwagen keine ersten Fahrten zwischen Dorf und Stadt, ohne Lehmann kein Sommermärchen 2006. Und ohne meinen Vater kein Ich. Welcher 10. November der wichtigste für mich persönlich war, ist also schon einfacher auszumachen.

Denn mit einem fehlenden Verständnis für Zahlen, Geometrie, Technik, Physik und Chemie bin ich, eigentlich überraschenderweise bei diesen Genen, aufgewachsen. Feierabendliche Hausaufgabenhilfen in Mathe, Physik und Chemie konnten da wenig ausmachen, ebenso wie meine stets interessierten, aber doch eher verwunderten Nachfragen zum Beruf meines Vaters. Und dass diese jetzt in Bezug zu meinem Beruf auf Gegenseitigkeit stoßen, ist beruhigender als die Tatsache, dass man nicht alles können muss.
Da reicht es, mit einem guten Kompass für das, was gerecht, wichtig, angebracht, wertvoll – und lustig – ist, ausgestattet worden zu sein.
Ein Hoch auf den 10. November 1956, ein Hoch auf meinen Vater!

Ach Fründe!

Dass wir nachts wie Harry, Ron und Hermine durch Köln fahren und eine unmögliche Mission möglich machen wollen. Dass wir uns gegenseitig Mittagessen kochen, auch morgens um 8. Dass wir ein Taxi durch den McDrive nehmen. Dass wir auf dem Starnberger See Karnevalsmusik hören und es gegenseitig als den schönsten Tag im Leben proklamieren. Dass wir uns vor den verbotenen Dingen bewahren. Dass wir für einen einzigen Tag von Süden nach Norden fahren und es nie Verschwendung ist. Dass wir uns anbieten, das jeweils andere Zimmer aufzuräumen. Dass wir gemeinsam schon alle Personen des Lebens durchanalysiert haben. Dass wir unsere Kindheit nicht vergessen. Dass wir auf der ganzen Welt sind und doch immer zueinander finden. Dass wir am Fenster stehen und zu dritt tanzen. Dass sonntags unsere Kühlschränke fusionieren.

Das ist so wunderbar.

(Geschrieben im Februar 2016)

 

Wo ist das Problem?

Köln – Hauptbahnhof. Alles reden über diese eine Station, die für mich bis zuletzt die größte Sicherheit bedeutete. Da sind Menschen, wenn was ist. Da ist Licht. Man sieht mich, wenn was ist. Da stehen Taxis. Ich kann schnell weg, wenn was ist. Pustekuchen. Seit Silvester steht der Hauptbahnhof jetzt also für diese neue Dimension der Respektlosigkeit – und für ein Paradebeispiel an Verschiebung der eigentlichen Probleme.

Offensichtlich gab es unter den Tätern einen nicht unwesentlichen Anteil an Flüchtlingen und ich will diese Tatsache (und die damit einhergehenden Probleme, Konsequenzen, Diskussionen) nicht herunterspielen. Ich will aber auch nicht, das ein ganz anderes Problem dabei auf der Strecke bleibt. Nämlich das eigentliche Problem: Das Männerproblem.

Sexuelle Gewalt ist auch in unserer christlichen, aufgeklärten, demokratischen, westlichen Gesellschaft schon tief genug verankert – wir müssen die Diskussion zunächst ohne die erweiterte Dimension „Flüchtling“ führen. Das Problem ist uralt – und wir haben es ewig missachtet. Als ich in dieser einen Nacht „sexuell beleidigt“, so die offizielle Aussage, wurde, hat man zunächst mein Verhalten in Frage gestellt. Aber ich habe nichts falsch gemacht, ich bin einfach nur nach hause gelaufen. Und das mache ich immer noch – und ja, auch nachts. Natürlich ist der Adrenalinspiegel seitdem ungleich höher als vorher. Natürlich drehe ich mich öfter um und natürlich ist es jedes Mal ein wesentliche Erleichterung, ohne Zwischenfälle die eigene Wohnung erreicht zu haben. Aber: Ich – und diese Frauen am Kölner Hauptbahnhof – haben alles richtig gemacht. Und unsere Gesellschaft macht eben schon ewig alles falsch. Söhne werden zu „echten Kerlen“ erzogen. Mädchen sollen Kleider tragen und beim Sitzen die Beine schließen. Es sind nicht die Söhne, die sich entweder an den Anblick gewöhnen oder eben einfach wegschauen sollen. Es sind die Mädchen, die sich schick verhalten sollen. Und genau da fängt das Problem in unseren eigenen Reihen an: Wir haben die Frau zur Mitschuldigen und treiben die sexuelle Ungezügeltheit der Männer ab adsurdum. Analog dazu sehe ich die Verhaltensregeln, die man nun einführen möchte – und die die Polizei damals auch mir, selbstverständlich gut gemeint, mit auf den Weg gegeben hat. „Lauf selbstbewusst, lass dir keine Angst anmerken.“ – „Fahr am besten Fahrrad“ – „Nimm lieber ein Taxi“ – „Merk dir die Gesichter, die dir entgegenkommen.“

Ich habe lange nach diesem Credo gelebt. Bin durch die nächtlichen Städte gegangen und habe mir Gesichter eingeprägt. Merkmale, Gangart, Kleidung. Aber nein. Warum soll ich diesen Aufwand betreiben? Warum soll mein Kopf ständig arbeiten, wenn so viel andere Köpfe nicht den kleinsten Funken Respekt besitzen? Ich verstehe das Problem nicht.

 

 

Kosmos

I’m back im kölschen Kosmos. Diese Stadt scheint irgendwie ihr ganz eigens Leben zu führen, ist in sich geschlossen und kann ganz wunderbar ohne den Rest der Welt auskommen. Ein gutes Beispiel ist der Arztbesuch, den ich gestern erleben durfte. Ja, erleben.

5 Minuten nach „Ladenschluss“ klingelte ich an der Tür und bat, noch reingelassen zu werden. Ich betrat das schäbige Kellerwartezimmer, wo die Wände mit Karnevalsorden über und über dekoriert waren, und wurde nach zweinminütigem Warten zum behandelnden Arzt durchgewunken. Beim Arzt angekommen, verschrieb er mir nach weiteren zwei Minuten „Magnesium von Aldi, das aus der Apotheke ist viel zu teuer.“ und fing damit an, mich zu meinem Leben zu befragen. Beruf, Herkunft und dann die Frage „Warum hast du dir keinen Kölschen geholt?!“. Ähm. Tja, das ist die Frage, sagte ich zu ihm. Daraufhin begann eine lange Reise durch sein Leben.

Er selbst hätte seiner jetzigen Frau einst empfohlen, keinen Kölner zu heiraten. „Zu spät, ich bin schon von dir schwanger“, entgegnete diese, was zu drei weiteren Kindern und einer bis heute anhaltenden Ehe führte. Mit fünfjährigem „nicht rangelassen“ werden. Auf seine vier studienabbrechende Kinder (der eine davon besitzt im Anschluss an die Praxis ein Café) ist er dennoch stolz. „Die sind ja alle Kölle treu geblieben!“

Ich erfuhr außerdem, dass das vierte Kind ein Versehen und schließlich eine Sturzgeburt im Wohnzimmer war, während er noch im Supermarkt einkaufte. Das Kind hat es trotzdem zur Zahnärztin geschafft (nach abgebrochenem Medizinstudium), während ein anderer Sohn eine Zeit lang in Indonesien „sich selbst suchte“.

Bevor ich ging, wurde noch auf die Gitarre im Behandlungszimmer gezeigt und kurz darauf Richtung Heino-CD im Regal genickt. „Ein guter Freund von mir. Rief mich letztens an, ob ich nicht mit Flüchtlingen Gitarre spielen möchte. Mache ich jetzt immer.“

Ach, Colonia. Du kurioser Kosmos.

Alles wird gut.

Und das am Jubiläum – mal wieder zufällig fiel mir gerade, zwischen Umzugskisten und gepackten Taschen, ausgerechnet ein zu bloggen. Obwohl ich mich eigentlich nur selbst daran erinnern wollte, dass alles gut wird (trotz kaputtem Handy, immer noch fehlender Küche bei einem Einzug in die neue Wohnung, der in drei Tagen stattfinden soll und sonstigen „Unzulänglichkeiten“) hat WordPress mich wiederum daran erinnert, dass mein Blog und ich heute Fünfjähriges feiern.

Herzlichen Glückwunsch also an uns zwei! Lieber Blog, lass es krachen und feiern diesen Meilenstein. Ich überlege mir in der Zwischenzeit, wie ich wieder mobil erreichbar sein kann und wann ich sowohl Kuchen für die Arbeit als auch Umzugssnacks, Verischerungsshit, Küchenspaß und eine kleine Präsentation bis zum Ende der Woche geschafft kriegen soll. Ohne Küche. Halleluja.

Das Geschenk.

Oder die Gnade der europäischen Geburt.

Einen Monat lang bin ich durch drei Länder Asiens gereist, habe dort zwar vornehmlich Tourist gespielt, aber auch ein wenig von einem anderen Leben mitbekommen. Von einem Leben in nordthailändischen Wäldern, am Stadtrand von Phnom Penh oder im dreckigen Gewusel Bangkoks. Jedes Leben dort bringt sicher seine eigenen Herausforderungen und Schwierigkeiten, aber auch seine eigenen Expertisen und Einzigartigkeiten mit sich und ich möchte jetzt nicht den ewig bemitleidenden Europäer spielen. Denn das wäre nicht fair – unseren Tourguide aus dem Dschungel in Thailand bewundere ich für sein unfassbar großes Wissen über Natur, Gefahr und eben Nicht-Gefahr, über seine Fähigkeit, aus Bambus die ganze Welt zu schnitzen und über das scheinbar unzerrüttbare Orientungsvermögen auf unwegsamem Gelände und über Stock und Stein. Und, vor allem, für die Leistung, ohne Unterricht ein so gutes Englisch gelernt zu haben, dass es für zwei Tage mit 10 von ihren Privilegien gelangweilten Europäern reicht. Dennoch, wie ich da durch den Wald gestiefelt oder durch die rotbraunen Straßen Kambodschas gefahren bin: Irgendwann hat mich ein Begriff nicht mehr losgelassen: „Die Gnade der europäischen Geburt“. Wie selbstverständlich habe ich Schulbildung, soziale Sicherheit und Frieden bekommen und angenommen. Was blieb mit hier auch anderes übrig?
Zurück in Deutschland, treibt die digitale Hetze gerade ihren Höhepunkt, während viel zu viele Menschen aufbrechen müssen, um in Europa dem vollkommen berechtigten Wunsch nach Sicherheit und (im wahrsten Sinne des Wortes) Leben nachzukommen. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Und während sich die Welt dumm und dämlich diskutiert, wohin man nun „mit all den Menschen“ solle und warum diese ausgerechnet nach Deutschland wollen, frage ich mich eigentlich nur, ob jemals darüber nachgedacht wurde, was für ein unfassbares Glück es ist, zu genau diesen 82 Millionen Menschen zu gehören, die ausgerechnet in einem Land namens Deutschland geboren wurden.

Friede, Wohlstand und soziale Sicherheit haben wir nämlich nicht gepachtet. Wir haben da kein Monopol drauf und wir haben es auch nicht erfunden. Wir haben nur einfach Glück, zu dieser Generation zu gehören, die bis jetzt noch keinen Krieg mitmachen musste. Wir haben ein völlig unverdientes Geschenk erhalten, ohne irgendeinen Finger dafür gekrümmt haben zu müssen: Wir wurden zu richtigen Zeit am richtigen Ort geboren. Und jetzt kommen da Menschen, die eben zur falschen Zeit am falschen Ort gelebt haben – und dort sicher auch noch weiter leben möchten, aber leider existiert ihr Haus nicht mehr oder es droht, in naher Zukunft nicht mehr zu existieren.

Das Geschenk, das wir (von wem auch immer) durch unsere Geburt im Deutschland der 80er Jahre erhalten haben, ist zuletzt unser Verdienst. Vielleicht der unserer Großeltern und Urgroßeltern, vielleicht der unserer Eltern. Aber primär ist es ein Geschenk an uns, das wir sorgfältig verwahren und vor allen Dingen schätzen sollen – und das wir unbedingt teilen müssen. Denn man wird nicht ärmer, wenn man Glück teilt.

So viele Sprachen!

Ich habe eben den Versuch gestartet, mich über meine eigene Mehrsprachigkeit auszulassen. Er ist gescheitert. Ich versuche nicht weiter, es zu erklären, sondern poste nun einfach dieses Video und werfe Folgendes In den Raum: Wie seltsam eigentlich, dass ich hier alles verstehe? Und wie seltsam eigentlich, dass mein Gehirn das nicht übersetzt, sondern einfach versteht?

Abgesehen von den wirren Gedanken, ist dies ein schönes Lied. Norwegisch übrigens! Wie konnte es nur dazu kommen, dass ich Norwegisch verstehe und heute auch noch dazu eingeladen wurde, an einem Public Viewing teilzunehmen. Ein Public Viewing, das eine Konferenz in Kopenhagen verfolgt. Eine Konferenz über einen schwedischen Dialekt. Über Älvdalska. Lieber Gott, wann ist endlich Schluss mit dieser Freakigkeit?

Wie dem auch sei. Als ich heute im Uniflur stand, unterhielt ich mich mit einem Kommilitonen auf Deutsch. Hinzu kam eine Dozentin, die mich etwas auf Schwedisch fragte und daneben spielte sich ein dänisches Gespräch ab. Alles lief irgendwie in meinem Gehirn problemlos zusammen. Dafür möchte ich dir danken, liebes Gehirn. Danke, dass so viele Sprachen nicht nur Laute für mich sind, sondern tatsächlich Sinn ergeben. Gelobt sei die Brotlosigkeit der Skandinavistik, der Wirrwarr des Russlanddeutschen und die Konsistenz von Schulfranzösisch.

Lukas. Oh Lukas.

Ich habe so viel von dir gelernt. Du warst meine Jugend, mein Sommermärchen und mein Studium, meine Weltmeisterschaft. Du hast das kölsche Herz und den rheinischen Frohsinn. Und nun auch noch eine Kleiderlinie. Lukas, wenn du wüsstest, wie sehr du mir mit diesem Pullover aus der Seele sprichst!

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Lange habe ich darüber nachgedacht, mir zum Abschluss des Studiums einen Pullover meiner Universität zu kaufen, vielleicht sogar auch von beiden. So wie ein Abi-Shirt, das man sich zum Abschluss kauft und dann zweimal beim Grillen anhat, bevor man es höchstens in größter Verlegenheit zum Schlafen anzieht. Das hätte ich mir also gekauft und wäre in zwei Jahren zufällig beim Aussortieren darüber gestolpert und hätte vermutlich kurz wehmutig dreingeblickt und es dann wieder zurück gelegt. Wohin auch anziehen? Weiß doch jeder, dass man irgendwo studiert haben muss?

Aber Lukas, da du nun deine eigenen Uni-Pulli-Linie auf den Markt gebracht hast, sind diese Pläne verworfen. Ich brauche nur noch eins: Die University of Straße. Mit deinem Antlitz.